
Wir werden wohl alle noch einige Tage oder sogar Wochen brauchen, um zu verstehen, was da oben am Nordpol passiert ist. Und ich spüre, dass mein Körper bald eine Woche danach immer noch das Geschehene verarbeitet. Beide Knie haben nach dem Rennen beschissen ausgesehen und das linke hat mich mehr an einen Punching Ball erinnert als an etwas anderes. Selbst Tage danach spüre noch kleine Muskeln an meinen Füssen und Beinen, die ich nie zuvor gespürt habe.
Ratet mal wer der Typ in der roten Jacke ist, der bei Sekunde 53 vorbeihuscht 😉
Hier noch der Link zum gleichen Film in deutscher Sprache, wo ich bei Sekunde 22 zu sehen bin: LINK
Ihr denkt wohl, jetzt kommt so eine “das war mein härtestes Rennen”-Geschichte. Das einzige was ich über dieses Abenteuer sagen kann ist, dass ich während 334 Minuten bei -30°C und weniger auf Eis und Schnee lief, ging, umfiel und aufstand. All dies an einem Ort, der auf keiner Landkarte zu sehen ist. Ein Stück Eis das aussieht wie eine Eiswüste von unglaublicher Schönheit. Als wir unsere Körper an diesen nie enden wollenden Feldern von kleinen Eisberglein vorbeischoben, kam einem das vor wie die Kulisse in einem Trickfilm, die im Hintergrund abläuft und die Vorwärtsbewegung simuliert. Jeder von uns war alleine, auf sich selbst gestellt, gegen seine Dämonen kämpfend und den Anschluss zu den anderen suchend.
(Photo taken by Mike King)
DER VERLUST DES ZEITGEFÜHLS
Damit man dies alles besser verstehen kann, müssen wir zuerst einen Schritt zurück gehen. Als wir in Spitzbergen gelandet sind wurden unsere Tage unstrukturierter und es gab keinen eigentlichen Ablauf mehr. „The days and nights were as one for so long, that we lost track of time. We had no sense of dates or weeks; it was as if we no longer felt time pass us by in the darkness.“ Diese Zeilen schrieben einige Polarabenteurer nieder als alles dunkel war. Als wir oben waren, war alles hell und die Sonne schien den ganzen Tag und unser Hirn dachte in etwa: Hey, die Sonne scheint, Du solltest jetzt nicht schlafen. Auf dem Rennvideo sieht man das ganz gut – wir starteten nämlich kurz nach Mitternacht! Und wir hatten zuvor kaum geschlafen. Denn in den Zelten konnte man nicht schlafen, nur relaxen. Es gab eigentlich auch keinen Zeitplan. Richard Donovan, der Renndirektor, war als erster oben und begann sofort mit dem abstecken des Parcours, den wir neunmal laufen sollten. Wir hielten uns also an Annahmen und ungefähre Rennzeiten. Ich wusste, dass es kalt würde und ass deshalb mehr oder weniger den ganzen Tag hindurch wartend in der Lobby, am Flughafen, auf dem Flug zum Pol und oben im Zelt Kohlehydrate von Winforce (Carbo Basic Plus und Energy Complex) und verschlang dann noch zwei Stunden vor dem Start ein gefriergetrocknetes Frühstück.
VERLOREN IM NIRGENDWO
Nach einem kurzen Rennbriefing – Richard sagte so etwas wie: Alles läuft hier oben etwas langsamer ab als zu Hause. Passt also auf – gingen wir für ein letztes Bild nach draussen und stürzten uns in dieses atemraubende Abenteuer. Ein Abenteuer, dessen Intensität und Härte wohl niemand verstehen kann, der nicht selbst mitlief. Vor uns lagen 9 Runden von jeweils ungefähr 4.7km. Jede Runde führte uns am geheizten Zelt vorbei, wo man essen, trinken und sich aufwärmen konnte. Im Einsteig war eigentlich alles locker, wir liefen auf einer harten, eisigen Unterlage ungefähr 800m in die gleiche Richtung. Aber dann hörte dieser Weg auf und endete in einem weissen grossen Schneefeld, das wir irgendwann wieder verliessen, um dann nochmals etwa 1000m auf solidem Untergrund zu laufen, bevor wir erneut ins Nirgendwo sprangen. Der weiche Untergrund war teilweise knöcheltief, je nach Position bis knietief und an manchen Stellen hatte es unsichtbare Löcher. Der Läufer auf dem Video hier ist Ian Egan, ein 2:40 Marathon Finisher. Schaut Euch mal seine Geschwindigkeit an, mit der er hier aus dem Schneefeld herauskommt. Sein Statement ist schon jetzt legendär.
EINE LAUWARME DUSCHE MITTEN IM NIRGENDWO
Ich plante einen Non-Stop-Lauf, um zu verhindern, dass ich im warmen Zelt zu schwitzen beginne und immer wieder von neuem meinen Flow suchen musste. Dank meiner Tests im Kühlhaus wusste ich zudem, dass es – rein theoretisch – möglich war, mit einem tiefen Puls zu laufen (um starkes Schwitzen zu verhindern). Hinzu kam, dass ich hervorragendes Material hatte (Merino statt Kunstfaser und eine atmende Aussenschicht) und auch die richtige Nahrung, um die nötige Energie aufzubringen. So trug ich einen kompakten Nathan Camelbag mit 2 Litern zwischen meiner ersten und zweiten Kleiderschicht. Gut geplant, schlecht umgesetzt. Mitten in der ersten Runde machte es “Blobb” und der Inhalt des Camelbag lief meinen Rücken und meine Beine runter bis zu den Füssen. Und das bei weniger als -30°C. Panik! Was sollte ich jetzt machen? Luftlinie zurück zu den Zelten und mindestens 40 Minuten verlieren? Dem Weg folgen zurück ins Zelt? Oder sogar durchlaufen ohne Wechsel? Die letzte Option verwarf ich schnell, als das Wasser am Rücken auskühlte und in den Schuhen ankam war klar, dass ich wechseln musste. Alle Kleider in Reserve, war ich nach gut 15 Minuten wieder auf der Piste. Leider waren weder Hose noch Ersatzjacke wirklich atmungsaktiv und auch mein Herzschlag lag deutlich höher als erwartet. So begann auch ich langsam an zu schwitzen. Aber die Fähigkeit meiner Merino-Bekleidung, die Feuchtigkeit zu speichern und meinen Körper dennoch warm zu halten, war eindrücklich. Einzig die Balaclava und die Merino Handschuhe wechselte ich im Verlauf des Rennens zweimal. Der Rest passte und die Aufenthalte im Zelt reduzierte ich auf ein Minimum von 1 Minute alle ein bis zwei Runden.
SCHWERE BEINE UND EINE ADRENALINFLUT IN MEINEN VENEN
Ich schob meinen Körper auf den harten flachen Stellen schneller vorwärts und versuchte gleichzeitig, im “weichen” Schneefeld das Schlimmste zu verhindern. Es wurde extrem hart, überhaupt noch zu rennen und den Körper vorwärts durch die Kälte zu prügeln. Zum Schluss konnte ich meine Beine beim Betreten und Verlassen des Zelts nicht mehr anheben. Erstaunlicherweise ging es dann wieder als ich draussen in den Feldern war. Frag mich nicht warum. Die einzige schlüssige Antwort ist, dass unser Körper auf Notprogramm umschaltete – überleben war das Ziel. Die Maschine lief, leerte sich aber immer mehr, lief weniger rund und drohte jede Sekunde zu stoppen. Aber es geschah nicht. Unser Körper beschützte uns, denn ganz alleine für einige Stunden da draussen wäre der sichere Tod gewesen. Die Leere im Körper fühlte sich auch ganz anders an, als bei einem Rennen hier an der Wärme, wo Du auch mal in Ruhe gehen, unterwegs essen oder trinken und auch mit anderen sprechen kannst. Wir liefen im Alarm-Modus. Und mein Körper vergass komplett, dass ich wenige Stunden zuvor noch “krank” war und Medikamente einnahm. Als ich Camp Barneo ankam, war das Grippegefühl weg und kam nicht wieder. Fiona – die erstplatzierte Frau – brachte es in ihrer Aussage ziemlich gut auf den Punkt:
EIN AUFSCHLAG VON 60%
Als ich über die Ziellinie lief war ich komplett leer, der ganze Körper schmerzte, meine Füsse und meine Unterarme waren eisig kalt. Es war ein einziger Kampf gegen die Zeit, gegen die Kälte, die uns auf der ersten Runde biss und ihre Zähne Runde für Runde tiefer in unsere Körper rammte bis unser Körper dann irgendwann abkühlte und kälter wurde. Einige Sekunden nach dem Finish sandte mein Körper dann die echten, realen Signale, nicht die “schönen” Bilder der letzten 6 Stunden. Ich brauchte einige wenige Stunden in meinem Schlafsack, bis mein Körper wieder Temperatur hatte. Mein Knie schmerzte und die Waden zogen sich immer wieder zusammen. Als wir unsere Zeiten diskutierten kamen wir zum Schluss, dass jeder von uns rund 60% mehr Zeit – oder mehr Energie – als auf der Strassenstrecke benötigte. Wenn ich meine Kleiderwechsel-Zeit abziehe, dann kommt das in etwa hin. Meine Gesamtzeit belief sich auf 5:56 und es resultierte ein sehr guter 13. Rang auf den ich wirklich stolz bin. Das Feld bestand aus vielen erfahrenen Marathon-, Trail- und Ultra-Läufern.
LEER ABER ZUFRIEDEN
Nochmals: niemand kann verstehen, was da draussen während dem Rennen wirklich passierte. Ich brauchte Stunden, um ins normal Leben zurückzukehren und selbst jetzt, Tage danach, sendet mein Körper noch komische Signale. Und ich esse wie ein Eisbär, vielleicht einfach nur um die verbrauchte Energie zurück in meinen Körper zu bringen, die ich in diesen atemberaubenden 6 Stunden verbrauchte, welche mir schlussendlich wie 30 Minuten vorkamen. Linh Huynh – eine kanadische Läufern – schrieb einige Tage nach dem Rennen auf Facebook:” I have been crying a lot these days. But for today, I will sit in quiet contemplation and try to record the events of the most thrilling 36 hours of my life.” Da kann ich nichts mehr hinzufügen. Du hast eine unglaubliche Leistung gezeigt, Linh.
UND DANN WAREN DA NOCH ERWAN UND RENAUD
Renaud (der Vater) und Erwan (sein Sohn) waren auch da oben. Beide liefen und rannten für ihre Tochter bzw. Schwester, die letzten Dezember an zystischer Fibrose starb. Erwan lief langsam, konstant und feuerte uns Runde für Runde an während sein Vater als zweitplatzierter nach 4:34 finishte, sich für eine halbe Stunde wärmte und umzog, um danach mit Erwin nochmals 7 Stunden da draussen runden zu drehen. Glücklich aber erschöpft erschienen Sie nach 12 Stunden und 11 Minuten wo wir sie mit grossem Jubel empfingen. Übrigens, Erwan ist gerade mal 14 Jahre alt! An ihn schaue ich hoch und ich bin sicher, dass er eines Tages realisieren wird, wie stark und gross er an diesem 9. April 2013 wirklich war.
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congratulations herr utz – tönt spannend, eindrueckluch und einzigartig
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Danke vielmals. Spannend war es auf jeden Fall. Melde mich. Gruss, Patrick Utz
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